🙄 24 Stunden mit Geheimratsecken

Der Wecker klingelt. 6:30 Uhr. Ich drehe mich im Halbschlaf zur Seite und taste nach dem Aus-Knopf. Meine Finger finden das kühle Metall meines iPhones, während meine Gedanken noch im Traumland schweben. Doch dann trifft mich die Realität wie ein Blitz: Oh nein, heute ist das wichtige Kundentreffen.
In Sekundenschnelle bin ich hellwach. Nicht wegen der Präsentation – die sitzt. Sondern wegen dem, was auf meinem Kopf passiert. Oder besser gesagt: nicht mehr passiert.
Willkommen in meinem Leben mit Geheimratsecken. 24 Stunden, die zeigen, wie ein Haaransatz zum Mittelpunkt deines Universums werden kann.
6:45 Uhr: Das morgendliche Ritual
Mein erster Gang führt nicht zum Wasserkocher für einen Schwarztee, sondern zum Badezimmerspiegel. Die altbekannte Choreografie beginnt: Licht an, tief durchatmen, Blick heben. Da sind sie – meine Geheimratsecken. Und sie scheinen über Nacht wieder gewachsen zu sein. Natürlich nicht die Haare, sondern die kahlen Stellen.
Ich bewege meinen Kopf wie ein Forscher, der ein seltenes Objekt studiert. Links, rechts, oben... nur nicht zu weit nach oben schauen. Mit geübten Fingern versuche ich die verbliebenen Haare so zu drapieren, dass sie möglichst viel bedecken. Der "Comb-Over-Tango" beginnt.

Das morgendliche Styling wird zur wissenschaftlichen Prozedur: Erst föhnen (aber nur kurz – zu viel Hitze könnte ja weitere Haare vertreiben), dann mit einer Prise Wachs arrangieren, gefolgt von haarschonender Modellage-Creme und abschließend einer Wolke Haarspray, die selbst einen Hurrikan standhalten würde.
Nach 38 Minuten (ja, ich habe mitgestoppt) ist das Kunstwerk vollendet. Aus bestimmten Winkeln – wenn man nicht zu genau hinschaut und das Licht gedimmt ist – könnte man fast meinen, da wäre eine vollständige Haarpracht.
8:15 Uhr: Der Wind-Alarm
Die Kunstfrisur hält exakt bis zur Haustür. Dann meldet sich Mutter Natur mit einer Böe, die meine architektonische Meisterleistung innerhalb von Sekunden zerstört. Panik steigt in mir auf. Mein Gehirn feuert Notfallsignale ab: Zurück ins Bad? Zu spät fürs Meeting? Mütze aufsetzen und behaupten, ich hätte eine religiöse Erleuchtung?
Ich entscheide mich für die Notfall-Option: das Auto-Styling. Mit zitternden Händen ziehe ich einen Mini-Kamm und eine Reise-Haarspray-Dose aus der Innentasche meiner Anthraziten-Lederjacke.

Mein Auto verwandelt sich in einen improvisierten Friseursalon, während der Rückspiegel schonungslos jedes Detail meiner haarigen Misere offenbart.
10:30 Uhr: Das Meeting des Grauens
Das Kundengespräch läuft brillant – zumindest fachlich. Doch meine Gedanken kreisen um eine einzige Frage: Starrt er auf meine Geheimratsecken?
Während ich über Conversion-Rates und Content-Strategien spreche, führe ich innerlich ein zweites Gespräch:
"Er schaut nach oben. Definitiv auf meine Stirn. Vielleicht sollte ich den Kopf leicht neigen? Aber nicht zu offensichtlich. Jetzt lächelt er – lacht er über mich? Nein, das war ein normales Lächeln. Oder? KONZENTRIER DICH!"
Die Präsentation dauert 45 Minuten. Es fühlt sich an wie 45 Jahre.
12:15 Uhr: Die Mittagspausen-Kontrolle
Während meine Kolleg*innen über das erfolgreiche Meeting diskutieren, schleiche ich mich auf die Toilette für eine Haar-Inspektion. Der Spiegel ist unbarmherzig: Meine sorgfältig arrangierten Haare haben sich zurückgezogen wie eine Armee auf dem Rückzug. Die linke Geheimratsecke scheint unter dem Neonlicht förmlich zu leuchten.

Mit der Präzision eines Neurochirurgen arbeite ich an der Wiederherstellung. Ein Kollege betritt den Raum, und ich tue so, als würde ich mir nur kurz durchs Haar fahren – eine beiläufige Geste, die ich seit Monaten einstudiere.
15:30 Uhr: Die Selfie-Krise
Eine Kundin möchte ein Gruppenfoto für die sozialen Medien. Mein Herz rast. Ich positioniere mich strategisch: leicht seitlich, Kopf minimal geneigt, mit genügend Abstand, um notfalls den Bildausschnitt beeinflussen zu können.
Das Foto wird gemacht. Sofort bitte ich: "Zeig mal!" Eine schnelle Kontrolle – und da ist er, der Horror: Aus diesem Winkel sieht meine Stirn aus wie eine Landebahn. Ich hoffe, dass niemand zoomen wird.

18:45 Uhr: Das Date-Dilemma
Nach Feierabend geht's zum ersten Date mit einem Tinder-Match – wo meine Profilbilder natürlich sorgfältigst ausgewählt wurden. Strategische Kopfhaltung, perfekter Winkel, ideales Licht.
Jetzt sitze ich in der Bar, betrachte mein Spiegelbild im Fenster und stelle fest: Das Styling hat nachgelassen. Panisch überlege ich: Das Fenster bietet Gegenlicht – wenn ich mich richtig positioniere, fallen meine Geheimratsecken kaum auf.
Ich wähle den Platz mit dem Rücken zum Fenster und verbringe das gesamte Date damit, meinen Kopf im vermeintlich vorteilhaftesten Winkel zu halten.
Mein Nacken schmerzt, aber meine Unsicherheit schmerzt mehr.
Statt auf ihre Worte zu achten, kreisen meine Gedanken um die Frage: Bemerkt sie es? Ist ihr schon aufgefallen, dass ich anders aussehe als auf den Fotos?
22:30 Uhr: Die nächtliche Recherche
Zu Hause angekommen, starte ich meine allabendliche Routine: Die verzweifelte Google-Suche nach neuen Wundermitteln gegen Haarausfall. "Geheimratsecken stoppen" ... "Haaransatz retten" ... "Natürliche Mittel gegen Haarausfall"
Ich scrolle durch endlose Foren, lese Erfolgsgeschichten von zweifelhaften Produkten und klicke mich durch Vorher-Nachher-Bilder, die offensichtlich manipuliert sind. Trotzdem bestelle ich das nächste vielversprechende Wundermittel – Nummer 17 in meiner wachsenden Sammlung.
23:15 Uhr: Die Einschlaf-Gedanken
Im Bett liegend, ziehen die Gedanken Kreise. Ich stelle mir vor, wie meine Geheimratsecken morgen aussehen werden:
- Ob sie noch weiter zurückgegangen sind?
- Was, wenn ich in einem Jahr eine Glatze habe?
- Werde ich dann noch attraktiv sein?
- Wird mich noch jemand ernst nehmen?
Ich stelle mir alternative Zeitlinien vor: Was wäre, wenn ich jetzt schon alles abrasieren würde? Die Vorstellung jagt mir Angst ein. Aber die Vorstellung, weiter jeden Tag dieses Versteckspiel zu spielen, macht mir noch mehr Angst.
Ich fühle mich gefangen zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte.
Erkennst du dich wieder?
Dieses Hamsterrad aus Sorgen, Kaschieren und Selbstzweifeln war jahrelang mein täglicher Begleiter. Was ich damals nicht wusste: Diese Geheimratsecken waren nicht mein Feind – sie waren der Anfang meiner Befreiung.
Die Wahrheit ist: Ich habe mehr Zeit damit verbracht, meine Geheimratsecken zu verstecken, als sie einfach zu akzeptieren. Jede Minute vor dem Spiegel, jeder ängstliche Blick, jedes umständliche Foto – all das war verlorene Lebenszeit.
Der Wendepunkt kam, als ich verstand: Meine Haare definieren nicht, wer ich bin. Was mich definiert, ist meine Entscheidung, wie ich mit Veränderungen umgehe.
Heute lebe ich glücklich mit meiner wenighair-Glatze. Das morgendliche Ritual dauert 3 Minuten statt 40. Wind? Kein Problem. Regen? Bring it on. Fotos? Aus jedem Winkel!
Doch der größte Gewinn ist nicht die Zeit oder die praktischen Vorteile – es ist die mentale Freiheit. Ich verschwende keine Energie mehr auf etwas, das ich nicht kontrollieren kann. Diese Energie stecke ich stattdessen in Dinge, die wirklich zählen.
Bleibt mutig, bleibt glänzend!
Christos #wenighair
PS: Letzte Woche habe ich eine alte Mütze gefunden, die ich früher ständig trug, um meine Geheimratsecken zu verstecken. Ich musste lachen – heute trage ich Mützen nur noch, wenn mir kalt ist.
PPS: Mich hat mal ein Kind gefragt: "Warum hast du keine Haare?" Meine Antwort: "Weißt du, manchmal entscheiden Haare, dass sie woanders glücklicher sind – meine haben beschlossen, dass meine Schultern und mein Rücken sie mehr brauchen." Das Kind nickte ernst und sagte: "Das macht Sinn."
PPPS: Ich mag es, zu meditieren. Lustigerweise kann ich mich jetzt viel besser konzentrieren als früher – wahrscheinlich, weil ich keine Gedanken mehr an Haarstrategien verschwende.